Eltern

23.7.2024

Mein Lebensbuch

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Ich lese gerade in nächtlicher Stunde einen Artikel über Erich Kästner, als ich im Zimmer meiner Tochter gedämpfte Männerstimmen höre.

Ich gehe nach oben, routiniert finde ich den Knopf des CD-Players und stelle „Harry Potter“ ab, es bleiben gleichmäßige Atemzüge im Raum und angerührte Vatergefühle, als ich das Zimmer der Dreizehnjährigen wieder verlasse. Seit fünf Jahren ist Frieda im Bann des Zaubererkindes, das Werk von J.K.Rowling scheint das Buch der Bücher für sie zu sein. Natürlich verschlingt sie diverse Werke der Kinder- und Jugendliteratur, aber die Geschichte vom „Kind, das überlebt hat,“ muss wohl so eine erste Liebe sein, ein Heimathafen, der immer wieder angesteuert wird, ein Kursbuch zur Orientierung, welche die erdachten, beobachteten und erlebten Geschichten in dieser Welt als relevant erscheinen lässt und welche nicht. Ein Lebensbuch.

Ich frage mich, welches mein Lebensbuch ist. Im Schatten der Gleichzeitigkeit – aber unwiderlegt, also tatsächlich zufällig zeitgleich – erkenne ich, dass mein Lebensbuch ein Kästnerbuch sein muss. Alles andere kam später. Letztes Jahr erst habe ich den „Gang vor die Hunde“ (Fabian) entdeckt und eine Sprache wiedergefunden, die vor über dreißig Jahren ihren Weg in meine Weltbetrachtung gefunden hat. Damals waren es Emil, Pünktchen und Anton, das doppelte Lottchen und das fliegende Klassenzimmer. Und im Nachsinnen, welches mich am meisten bewegt hat, bleibe ich beim Fliegenden Klassenzimmer, wenn es auch nicht das erste Buch gewesen ist.

In Kästners Geschichten, die von Kindern handeln, spielt es eine vornehmliche Rolle, was diese Kinder wirklich brauchen, grundsätzlich, generell, im Allgemeinen wie im besonderen Fall sowie im richtigen Moment. Und ich glaube, keine Geschichte macht das mehr deutlich als das Klassenzimmer mit seinen vielen kleinen und klein gebliebenen Persönlichkeiten, die eine Sehnsucht haben. Eine Sehnsucht, die in der Lebensgeschichte und Herkunft begründet liegt und gesehen werden möchte. Beispielhaft erinnere ich den Martin, der nie um etwas bitten würde, ein Lehrer sieht es und gibt ihm das Geld für die Heimfahrt zu Weihnachten. Daneben sind Gesehenwerden, Stolz, Gerechtigkeit die Ideale, mit denen Kinder den Flug in die Welt antreten möchten, kämpfen und ihre Opfer bringen, sehr unterschiedlich, sehr individuell.

Das fliegende Klassenzimmer erinnert mich daran, wie wichtig es ist, als Kind und als Mensch gesehen zu werden. Gerecht ist nicht eine Gleichverteilung von Gütern, sondern ein Gerechtwerden der Lebenssituation jedes Einzelnen. Das kann keine Regierung leisten und kein System. Das können nur Menschen untereinander. Und für Kinder können das nur Erwachsene, die sich die Zeit und die Aufmerksamkeit nehmen, jeden Einzelnen in seinem Lebensmoment wahrzunehmen.

Ludwig Patzelt

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